Zwischen Temperament und Träumerei
Harpstedt – (Kreiszeitung 04.07.2022 - Bohlken) Tango und Melonge aus Argentinien, kombiniert mit traditionellem Liedgut aus China – passt das zusammen? Und klingen nicht gerade Stücke mit Wurzeln in der fernöstlichen Folklore für westeuropäische Ohren zu exotisch, zu fremd? Der Pianist Juan María Solare und der Saxofonist Yu Han bewiesen am Sonntagnachmittag und -abend in der Harpstedter Christuskirche, dass es Musik von zwei „Antipoden“ der Erde vermag, zu einem stimmigen Klangbild zusammenzuwachsen. Diese Erkenntnis wiederum entfaltet Symbolkraft, kann sie doch für gelingende Völkerverständigung stehen.
Die von den beiden Künstlern auf hohem Niveau interpretierte klassische Musik der Moderne mit Wurzeln in der Folklore, darunter rund 100 Jahre alte Stücke, aber auch Eigenkompositionen von Solare, muteten mehrheitlich regelrecht eingängig an. Mitunter blitzten leicht schräge, jazzverwandte Tonfolgen und Harmonien durch. An anderer Stelle verliehen Tempiwechsel der Musik Charme, etwa in „Yao Zu“ (Tanz des Yao-Stammes), einer der bekanntesten und beliebtesten chinesischen Instrumentalkompositionen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dann wieder versprühte sehnsuchtsvolles Liedgut, besonders die chinesische Volksweise „The Crescent Moon Rises“, derart viel Romantik, dass der Zuhörer fast schon einen Film vor seinem geistigen Auge hätte ablaufen sehen können. Tatsächlich haben Kompositionen, die das „Duo Antipoden“ in Harpstedt vortrug, zum Teil Verwendung als Filmmusik gefunden.
Nicht nur die emotional anrührenden Lieder, sondern auch die perfekte Harmonie von Yu Hans strahlend schönen Saxofonspiel und Solares virtuoser Kunst am Steinway-Flügel machten das Konzert zu einem mehr als nur leicht verdaulichen Erlebnis.
Gudrun Zelle als Gastsängerin
Zu den bekanntesten Komponisten, denen das Duo aus Hochschuldozenten und Profimusikern Tribut zollte, gehörten Carlos Gardel und Astor Piazzolla, deren Werke mittlerweile auch schon mal in klassischen europäischen Konzertsälen gefeiert werden.
Es sei ihr eine Ehre, an der Seite so wundervoller Musiker auftreten zu dürfen, sagte Gudrun Zelle aus Harpstedt. Sie gesellte sich dem Duo vor der Konzertpause als Gast hinzu, um das melancholisch-chansonhafte „Alfonsina y el mar“ zu singen. Die Ballade im Dreivierteltakt lehnt sich an die Geschichte der Alfonsina Storni an, die 1938 nach einer Brustkrebserkrankung in Mar del Plata Suizid beging, indem sie von einem Wellenbrecher ins Wasser sprang. Die Tochter eines Industriellen war als Vierjährige mit ihren Eltern aus dem Tessin in der Schweiz nach Argentinien gekommen. Später erlangte sie dort Bekanntheit als Schauspielerin, Autorin und Frauenrechtlerin, ebenso als Lehrerin für behinderte Kinder und Journalistin. Sie galt zudem als das Gesicht der Volksbibliotheken der Sozialistischen Partei von Buenos Aires. „Ich habe das Lied schon öfter gesungen, zum Beispiel auf Kuba“, verriet Gudrun Zelle dem Publikum. Das Konzert, dem gerade mal 30 Zuhörer lauschten, hätte eine größere Resonanz verdient gehabt.
Auch schon im „Mikado“ aufgetreten
Seinen Reiz schöpfte es gerade aus den beiden so unterschiedlichen Kulturkreisen, aus denen Yu Han und Juan María Solare kommen. Argentinien und der Tango stehen für Leidenschaft; die Chinesen gelten als eher introvertiert. In der Musik aus beider Herren Länder offenbaren sich diese „Antipoden“ aber so deutlich nicht; hier verlaufen die Grenzen sehr viel fließender. Die Melonge kann schon mal eine verträumte Seite offenbaren und die chinesische Volksweise eine temperamentvolle.
Das „Duo Antipoden“ hat übrigens nicht zum ersten Mal in der Samtgemeinde Harpstedt konzertiert. Es war auch schon im Horstedter Kultur- und Tagungshaus „Mikado“ zu erleben. In Bremen traten der 55-jährige Solare und der 20 Jahre jüngere Yu Han unter anderem in der „Glocke“, im Rathaus und in der Kreuzkirche der International Baptist Church auf. Kennengelernt hatten sie sich an der Bremer Hochschule für Künste.
Quelle: Kreiszeitung ONLINE 04.07.2022