Haben den Gottesdienst zur „Baustelle“ erklärt und im Gemeindebrief „Betreten ausdrücklich erwünscht“ hinzugefügt: Timo und Hanna Rucks, hier mit ihren Kindern Lea und Simon. Foto: Kreiszeitung
Neues Pastorenpaar ist offen für Neues – auch bei den Gottesdiensten
Harpstedt - (Kreiszeitung v. 31.10.2014 von Jürgen Bohlken.) „Die Leute sprechen hier alle so gut hochdeutsch“, flachst Pastorin Hanna Rucks (32) auf die Frage nach kulturellen Unterschieden zwischen ihrer neuen Wahlheimat und ihrem Herkunftsland, der Schweiz.
Was den Menschenschlag angehe, gebe es durchaus Parallelen: „Die Norddeutschen sind wie die Schweizer im ersten Kontakt zu Fremden ein wenig zurückhaltend, etwas reserviert. Da wird nicht jeder gleich umarmt“, weiß die gebürtige Baselerin. Eine so ausgeprägte Schützenvereinstradition gebe es bei den Eidgenossen nicht. Erntefeste und Hubertusmessen ebenso wenig. „Die Hierarchien sind hingegen hierzulande steiler“, urteilt die Pastorin. In der Schweiz, so ihr Eindruck, sei vieles „etwas genossenschaftlicher gedacht“.
Durchaus streng hierarchisch strukturiert ist nach Einschätzung ihres Mannes Timo Rucks auch die Kirche. Der Pastor, der sich nun eine ganze Pfarrstelle in der evangelischen Christusgemeinde mit seiner Frau teilt, kann diesbezüglich keine gravierenden strukturellen Unterschiede zwischen Lutheranern und Katholiken ausmachen – ein Thema, das er übrigens im Reformationstagsgottesdienst streifen wird. „In meiner Predigt stelle ich die tatsächlich die Frage, was Reformation eigentlich heute bedeutet. Gibt es sie noch? Oder haben wir sie schon überlebt?“
So gar nicht hierarchisch, sondern basisdemokratisch ging es im Theologischen Stift in Göttingen zu, wo sich das Paar während des Studiums kennen gelernt hatte. „Dreimal die Woche gab‘s ein Plenum. Wir hatten sogar Ministerien. Ich war mal Finanzminister“, erinnert sich Timo Rucks schmunzelnd. „Und ich Sozialministerin“, entsinnt sich seine Frau.
In Harpstedt, wo sich die Eheleute mittlerweile in der Pastorenwohnung des Ersten Pfarrhauses mit ihren Kindern Lea (22 Monate) und Simon (er kam am 6. Juli zur Welt) eingelebt haben, kennt sie noch nicht jeder. Timo Rucks kann nur mutmaßen, wie lange es dauern wird, bis alle – bis hin zur Friseurin oder den „Leute beim ,Euro Döner‘“ – wissen, „dass ich hier Pastor bin“. Aber es habe ja auch „etwas Erfrischendes, noch ein bisschen anonym zu sein“, findet seine Frau.
Dass beide frischen Wind in die evangelische Gemeinde bringen, deutet sich bereits an: So zogen kürzlich Konfirmationsjubilare zu dem Song „Auf uns“ von Andreas Bourani in die Christuskirche ein und waren vorab gebeten worden, Wünsche zur Gestaltung des Festgottesdienstes zu äußern. Diese Art von Experimentierfreude wird sich sicher fortsetzen. Appelle wie „Kommt mal wieder zu uns in die Kirche!“ bringen nach Ansicht des Pastorenpaars rein gar nichts mehr. Im Schnitt kämen nur rund drei Prozent in Gottesdienste, und einer Studie zufolge seien lediglich zwei oder drei von zehn Milieus „kirchenaffin“.
„Kirche²“ hieß ein ökumenischer Kongress in Hannover, aus dem sich eine Bewegung entwickelt: Dabei gehe es darum, sich den Menschen anders anzunähern und direkt in die Milieus zu gehen, weiß Timo Rucks. Er hat das selbst schon praktiziert. Der 30-Jährige arbeitete ein Jahr lang als Sondervikar in der „Kirche im NDR“-Redaktion, ist dort als Pastor für Kurzfilm und Kameratechnik weiterhin tätig – und war als Produktionsleiter und erster Kameramann an einem Kurz-Spielfilm beteiligt, der nahezu abgeschlossen ist. Die Handlung dreht sich um Lisa, eine 20-jährige Frau, die nach der Trennung von ihrem Freund nach ihrer eigenen Identität und ihrem eigenen Glauben sucht.
Das Besondere an dem Filmprojekt: Menschen aus allen möglichen Milieus haben teilgehabt – an den Planungen, am Drehbuch, an der Herstellung der Kostüme und den Dreharbeiten. Zu den Mitwirkenden zählten etwa ehemalige Obdachlose, religiöse wie nicht religiöse Menschen, Film-Profis und Laien, sogar eine katholische Schwester. „Zuerst habe ich die 20 Teilnehmern in Interviews danach befragt, woran sie glauben und was Glaube für sie bedeutet. Dann haben wir einen großen Plan gemacht und versucht, die Statements in einer Karte Milieus zuzuordnen“, erzählt Timo Rucks. Der Film werde in absehbarer Zeit in die Online-Mediathek des NDR aufgenommen.
Das Pastorenpaar hat die Gottesdienste in Harpstedt im aktuellen Gemeindebrief zu einer „Baustelle“ erklärt und „Betreten ausdrücklich erwünscht“ hinzugefügt – in der Hoffnung, Menschen zu gewinnen, die mit Kreativität und Experimentierfreude Neues ausprobieren möchten. Eine für jedermann offene „Baugruppe Gottesdienst“ trifft sich erstmals am Dienstag, 18. November, um 19 Uhr im „Ersten Pfarrhaus“. „Meine Frau und ich wollen Menschen finden, die sich den Gottesdienst anders vorstellen – und uns sagen, wie sie ihn sich wünschen“, erläutert Timo Rucks. „Jede Kirchengemeinde sollte sich darüber bewusst sein, wen sie erreichen will“, findet er. Alle zu erreichen, hält Rucks für illusorisch. „Das funktioniert nicht.“
Quelle: Kreiszeitung v. 31.10.2014